- 04.03.2024 - 11:00 

Wirtschaft und Demokratie - In schwindelerregender Gesellschaft

Nach den gesellschaftlichen Turbulenzen durch Corona und Russlands Einmarsch in die Ukraine 2022 stehen wir nun vor einer neuen Herausforderung im Jahr 2024: dem zunehmenden und anhaltenden Rechtsextremismus in Deutschland. Von Thomas Beschorner

Können Sie sich noch an Ihren Silvesterabend 2019 erinnern? Mir ging es so, dass ich zuversichtlich in das neue Jahrzehnte blickte. Vielleicht werden es die neuen goldenen 20er Jahre? Das hat ziemlich genau 6 Wochen angehalten, dann hatten wir es mit Corona zu tun – verbunden mit extrem schwierigen gesellschaftlichen Diskussionen, die bei fast jedem ins Private reichten. Diese gerade einigermaßen überwunden, marschierte Russland in der Ukraine ein. Das war 2022. Nun haben wir 2024 – und wir reden über das nächste Großthema: der zunehmende und anhaltende Rechtsextremismus in Deutschland. Willkommen in der 2020er Jahren!

Perioden des Übergangs

Der Ethnologe Victor Turner hat vor 60 Jahren einmal herausgearbeitet, dass Gesellschaften sich immer mal wieder in sogenannten „liminalen Perioden“ befinden. Er meint damit einen gesellschaftlichen Übergang, einen Schwellenzustand, bei dem die alte Welt nicht mehr da – und die neue Welt noch nicht da ist.

Turner`s Diagnose eines „betwixt and between“, eines „nicht mehr / noch nicht“, wie es der Organisationsforscher Günther Ortmann einmal nannte, ist eine durchaus treffliche Charakterisierung unserer gesellschaftlichen Situationen. Wir leben in einer „schwindelerregenden Gesellschaft“, unter der der Boden wankt. Die 2020er Jahre (und schon zuvor) haben massive soziale Gleichgewichtsstörungen. Und vielen Menschen ist dadurch schwindelig geworden. Sie suchen nach Halt, sie suchen nach Orientierung, ja nach Identität – in einer Welt, die sich immer schneller dreht.

Zur Metapher der schwindelerregenden Gesellschaft gehört auch, dass diese Schwindler anlockt; Schwindler die mit einfachen Geschichten aufwarten. Es ist nun leider so, dass je einfacher – man kann auch sagen: je dümmer die Geschichten –, desto eher verfangen sie bei manchen Menschen. Sehr beliebt sind dabei „wir-die“-Konstruktionen: „wir Deutsche oder wir Schweizer, die Ausländer“; „die da oben, wir hier unten“ usw. usf.

Entsprechend wird gewettert über die Medien, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft – all das im Duktus eines Besserwissertums, einem Anti-Intellektualismus und gerne mit dem Opferpathos einer Minderheit, die sich allein schon deshalb im Recht wähnt, weil sie sich als eine Minderheit fühlt.

Rechtspopulismus und Rechtsextremismus

Das ist in etwa die gesellschaftliche Hintergrundfolie auch für die Diskussionen, die zum Thema Rechtsextremismus in Deutschland geführt werden. Wir sollten sie zur Kenntnis nehmen, uns aber zugleich keinen Bären von der Rhetorik der Rechtextremisten und -populisten aufbinden lassen. Denn, um hier sehr klar zu sein, es steht etwas auf dem Spiel: nämlich nicht weniger als die freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Eben jene Grundordnung der Gesellschaft sollte auch die Wirtschaft interessieren. Unternehmen jedweder Art: klein, groß, dick, dünn: Konzerne, Mittelständler, Kleinstunternehmen in allen Branchen; und Wirtschaftsverbände, Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammer ganz ebenso.

Interdependenz der Ordnungen

Warum ist das wichtig? Es gibt dafür eine ganze Reihe von stichhaltigen ökonomischen Argumenten, die sehr deutlich machen, dass die aktuellen “rechts außen”-Entwicklungen der Wirtschaft nicht recht sein können. Mit Blick auf die wirtschaftspolitische Programmatik der AfD zeigt eine nähere Betrachtung zudem, dass dies maximale libertäre Phantasien sind, die hinten und vorne nicht aufgehen.

Es geht in der aktuellen Diskussion aber um durchaus mehr: Es geht um den fundamentalen Zusammenhang zwischen individueller Freiheit, einer demokratischen Ordnung und Sozialer Marktwirtschaft. Walter Eucken, einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, charakterisierte diese Trias einmal zutreffend als die “Interdependenz der Ordnungen”. Ist eine dieser drei Säulen in Gefahr, so wanken die anderen.

Was wir von dieser Einsicht lernen können: Demokratie ist eine wesentliche Grundlage für das, was wir Soziale Marktwirtschaft nennen. Beides sollte uns wichtig sein, denn das eine geht nicht ohne das andere.

Die Rolle der Wirtschaft

Die Wirtschaft in Deutschland ist beim Thema Rechtsextremismus in den vergangenen Wochen aufgewacht, was zu verschiedensten Initiativen geführt hat. Unter dem Hashtag #ZusammenLand lancierten Leitmedien in Deutschland eine Anzeigenkampagne zu Zusammenarbeit mit wichtigen Unternehmen, die zur Thematik Position bezogen haben. In Kiel formierte sich in diesen Wochen die Initiative „Wirtschaft für einen weltoffenen Norden“. In Stuttgart wurde jüngst im Beisein des deutschen Bundespräsidenten vom Arbeitgeberverband Südwestmetall in Kooperation mit der Gewerkschaft IG Metall das Bündnis „Wirtschaft für Demokratie“ ins Leben gerufen.

Solche Initiativen seitens der Wirtschaft sind von enormer Bedeutung: Unternehmen und Wirtschaftsverbände sollten sich in der Tat sehr klar zu dem besprochenen Thema positionieren und im besten Sinne des Wortes etwas „unternehmen“. Was aber kann in praktischer Hinsicht von Unternehmen „unternommen“ werden?

Sechs Empfehlungen

Dazu sechs knappe Empfehlungen für Unternehmen:

  1. Fundamentale Unternehmenswerte sind die Grundlage für ein humanistisches Wirtschaften und damit die Basis für eine wohlverstandene Unternehmensverantwortung – eine Verantwortung in der Gesellschaft, für die Gesellschaft. Nehmen Sie das aktuelle Thema zum Anlass, um über Ihre fundamentalen Unternehmenswerte nachzudenken und nicht nur über ökonomische Erfolgsfaktoren.
  2. Prüfen Sie auf der Grundlage dieser Unternehmenswerte, ob diese Werte zu ihren Geschäftspartnern passen – Kunden, Lieferanten, im Sponsoring usw.  – und mit wem Sie zusammenarbeiten wollen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Ihr Unternehmen Beziehungen zu Stakeholdern pflegt, die „rechts außen“ angesiedelt sind – und von denen Sie nichts wissen. Lassen Sie das doch einmal prüfen!
  3. Werden Sie in der Kommunikation Ihrer Unternehmenswerte nach innen wie nach außen lauter – und werden Sie kreativ. In der Corona-Zeit lancierten Unternehmen Kampagnen, bei denen es hieß: „Quadratisch, praktisch, geimpft“ (Ritter Sport) oder „Impfen find ich gut“ (Otto). Bahlsen aus Hannover titelt zum aktuellen Thema „Hass geht uns auf den Keks“. Die Deutsche Bahn schreibt: „Heute müssen alle stehen“ – Aufstehen für Demokratie. Bitte nachmachen!
  4. Wesentlich für eine gute Kommunikation ist: Bekennen Sie sich proaktiv für etwas (nicht gegen etwas), also z.B. für Demokratie, für Vielfalt, für eine offene Gesellschaft.
  5. Damit zusammenhängend: Sprechen Sie als Unternehmen gegenüber Ihren Mitarbeitenden keine Wahlempfehlungen für oder gegen Parteien aus. Das wäre übergriffig im Bereich der Bürgerrechte und aus ethischer Sicht nicht statthaft.
  6. Kommen Sie mit Ihren Mitarbeitenden ins Gespräch. Das ist vermutlich das Wichtigste. Entwickeln Sie und finden Sie Formen eines konstruktiven Austauschs zum Thema Rechtsextremismus und Rechtspopulismus und tabuisieren Sie es nicht. Ja, das wird anstrengend sein, aber es ist wichtig.

Demokratie ist Arbeit

Helene Fischer und andere prominente Künstler bezogen kürzlich sehr klar Stellung für Offenheit und Vielfalt in Deutschland. Atemlos durch Nacht? Ja, bitte! Und auch durch den Tag. So wie es Millionen von Menschen in ganz Deutschland während zahlreicher Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für eine weltoffene Gesellschaft in den vergangenen Wochen getan haben. Demokratie ist Arbeit. Eine anstrengende Arbeit, vor der sich keine Bürgerin, kein Bürger und auch kein Unternehmen drücken sollte.

***Dieser Text basiert auf zwei Impulsvorträgen des Autors in Kiel und in Stuttgart im Februar 2024. Im Rahmen dieser Veranstaltungen wurde die Initiativen „Wirtschaft für einen weltoffenen Norden“ und die Stuttgarter Erklärung „Wirtschaft für Demokratie“ lanciert.

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