Forschungsschwerpunkt Normative Ökonomik

«Die in der Ökonomik zur Anwendung kommenden ethischen Werturteile prägen die Sichtweise auf gutes Wirtschaften, sind aber im Mainstream nicht überzeugend. Sie müssen für eine lebensdienliche Ökonomik durch methodisch und empirisch bessere ersetzt werden.»
Prof. Dr. Martin Kolmar - Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt der angewandten Mikroökonomik

Normative Ökonomik

Der ökonomische Mainstream wirkt auch in seiner Funktion als positive Wissenschaft gesellschaftlich normativ und basiert als normative Wissenschaft auch explizit auf bestimmten Prinzipien. Diese bilden zusammen mit den epistemologischen und ontologischen Prämissen sowie dem verwendeten Menschenbild ein in sich gegenseitiges stützendes sowie stringent und schlüssig erscheinendes Wissenschafts- und Gesellschaftsbild. Dieses lässt sich mit den Begriffen Positivismus—Subjektivismus—Sein-Sollen-Dichotomien—Präferenzmodell (PSSP) zusammenfassen.

Die Forschungsschwerpunkt am Lehrstuhl von Martin Kolmar gliedern sich in zwei Teilbereiche: (1) Analyse und Bewertung des oben genannten Denksystems und (2) Entwicklung einer alternativen normativen Ökonomik, die die Hauptschwächen des Mainstreams vermeidet. 

Die ökonomischen gesellschaftlichen Vorstellungen des ökonomischen Mainstreams erscheinen «von innen» oftmals sehr stimmig. Kritik an einzelnen Elementen kann daher durch Verweis auf die anderen Elemente oftmals neutralisiert werden. Somit geht es im ersten Teil dieses Forschungsschwerpunktes um eine umfassende Bestandsaufnahme und Bewertung der oben genannten Theorieelemente, ihres Zusammenwirkens und ihrer normativen Implikationen. Es zeigt sich, dass jedes Element von PSSP für sich und ihre Interaktion so grosse Schwächen und Inkonsistenzen aufweist, dass die Theorie in ihren beiden normativen Funktionen unhaltbar ist. 

Der zweite Bereich zergliedert sich wiederum in zwei grosse Teilbereiche:

(i) Will man an einem normativen Gesellschaftsverständnis festhalten, welches das individuelle Wohlergehen ins Zentrum stellt, so sollte das theoretisch konzipierte Menschenbild der Mainstreamökonomik ersetzt werden durch ein empirisch fundiertes Menschenbild, welches die zentralen Erkenntnisse der z.B. der Evolutionsbiologie, Neurowissenschaft und Psychologie hinsichtlich Wahrnehmung, Verhalten, und Wohlergehen berücksichtigt und gleichzeitig offen bleibt für Veränderungen in diesem Menschenbild durch zukünftige Forschung. Daher werden in diesem Teil die Ergebnisse der obengenannten Forschungsfelder neben anderen zusammengetragen und zu einem möglichst stabilen aber offenen Verständnis des Menschen zu kommen.

Dieses empirisch fundierte Menschenbild (efM) wird dann (ii) ins Zentrum einer normativen Gesellschaftstheorie gestellt. Hierzu ist es zum einen begründungstheoretisch erforderlich zu sehen, wie sich durch das Zusammenspiel epistemischer und begründungstheoretischer Prämissen eine Legitimation ableiten lässt. Dieser Teil unseres Forschungsschwerpunktes basiert methodisch auf metaepistemologischen und metaethischen Konzepten der Normbegründung. Zum anderen ist gesellschaftspolitisch zu verstehen, welche Implikationen ein efM innerhalb einer Gesellschaftstheorie und Ökonomik hat und was daraus für z.B. gute Wirtschaft und Wirtschaftspolitik und das Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und «Umwelt» folgt.

Das sich abzeichnende Menschenbild hat grosse Überschneidungen mit tugendethischen Konzepten einer «Habitualisierungsethik», die dogmenhistorisch bis zur europäischen Neuzeit im westlichen Denken vorherrschend waren (z.B. bei Thomas von Aquin), die aber darüber hinaus auch den Regelfall in anderen Kulturen wie z.B. dem Daoismus, dem Konfuzianismus, dem Buddhismus und den yogischen Traditionen des Hinduismus und dem Sufismus bilden. Begreift man diese Denktraditionen nicht primär als Religionen, sondern als Vorstellungen über die Bedingungen eines Guten Lebens, so erkennt man ihre Gemeinsamkeiten. Diese werden auf Basis von efM zu einer Gesellschaftstheorie verdichtet. 

Die hier aufscheinende Vorstellung des Guten Lebens ist zum einen empiriebasiert und zum anderen nach all diesen begründungstheoretischen Fundierungen von grosser praktischer Relevanz. Es zeigt grosse Veränderungspotenziale auf, die es möglich machen, ein subjektiv besseres und zugleich reflektiertes Leben zu führen. Es erlaubt zudem dieses Leben gleichzeitig in Einklang mit einer nachhaltigen und weniger von der «Natur» abgespaltenen Lebensweise zu bringen. 

Das Gesamtprojekt zergliedert sich wie bereits gesagt in mehrere Teilprojekte, die in einer ersten Phase zu mehreren Buchprojekten führen, in denen die Grundlagen der Theorie gelegt werden. In einer zweiten Phase soll dann auf Basis dieser Grundlagen zum einen stärker Paper-basierte Journal-Forschung und zum anderen Praxisprojekte erfolgen. In der Lehre werden einzelne Aspekte in den Veranstaltungen Ökonomie des Glücks, Economics and Ethics, Modern Theories of Justice und Beyond Homo Oeconomicus: Decision Making and Wellbeing in Economics abgebildet. 

Prof. Dr. Martin Kolmar

Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen

Prof. Dr. Martin Kolmar

Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen

Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt der angewandten Mikroökonomik an der Universität St.Gallen und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik. Er forscht auf Basis neurowissenschaftlicher und psychologischer Erkenntisse zu Wahrnehmung und Verhalten zu normativen Grundsatzfragen der Ökonomie und Gesellschaft und publiziert auch journalistisch in der ZEIT, der FAZ, dem SPIEGEL, der NZZ etc.

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